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Interview / 16.04.2017
«UNSERE BEZIEHUNG ZU TIEREN HAT DRINGEND EINE VERÄNDERUNG NÖTIG»

Das Interview ist zuerst im «Schweizer Hunde Magazin» (2/2017) erschienen.

Er nimmt wie immer den Lift, fährt hinauf in den dritten Stock, betritt das Philosophische Seminar der Universität Basel, er sieht sich kurz um, wird von allen Seiten begrüsst, geht den langen Gang entlang bis zum Büro und wartet, mehr oder weniger geduldig, auf Professor Markus Wild, der ihm die Türe aufschliesst. Dann schlüpft er hinein, legt sich in eine Ecke und döst die nächsten zwei Stunden vor sich hin.

KLAUS PETRUS: Ihr Hund Titus ist eine Berühmtheit, Herr Wild.

MARKUS WILD: Zumindest hier an der Universität. Er ist fast immer bei mir, ich nehme ihn auch an die Vorlesungen mit. Manchmal, da kennt man mich nur wegen dem Titus.

Für viele von uns sind Hunde oder Katzen wie Lebensgefährten. Mit anderen Tieren gehen wir weniger zimperlich um.

Ja, man denke bloss an die Nutztiere. Wenn wir ehrlich sind, behandeln wir sie wie Gebrauchsgegenstände. Sie werden allein deswegen gezüchtet und geschlachtet, um von uns gegessen zu werden. Das prägt unser Verhältnis zu diesen Tieren. In einer Mast mit tausenden von Schweinen hat es keinen Platz für eine Beziehung, wie ich sie mit Titus führe.

Aber nicht nur Nutztiere, auch Haustiere werden häufig instrumentalisiert. Manche Menschen kaufen sich nur deshalb einen Hund, damit er ihnen Gesellschaft leistet. Andere wollen mit ihm Sport treiben. Wieder andere halten sich Hunde als Prestigeobjekte.

Das stimmt schon. Unsere Beziehung zu den Tieren ist grundsätzlich eine instrumentelle: Sie sind da, damit wir sie nutzen können. Und wenn wir sie für einmal nicht nutzen, dann ist das «nett» von uns. Aber wir könnten es jederzeit tun. Und zwar deshalb, weil wir es tun dürfen. Es gibt kein Gesetz, dass uns verbietet, Tiere – egal ob Schwein oder Hund – für unsere Zwecke zu gebrauchen. Schliesslich können wir sie kaufen, verkaufen, verschenken, mit ihnen züchten und anderes mehr. Und doch ist es anders, wenn es um Haustiere wie Titus geht. Zumindest in unserer Gesellschaft ist es doch so, dass wir es uns leisten können – und es uns auch leisten wollen –, zu ihnen «nett» zu sein. Wir versuchen es sogar mit möglichst viel Gegenseitigkeit und bemühen uns um eine gerechte und nicht nur instrumentelle Beziehung.

Heisst das umgekehrt, dass uns die Nutztiere egal sind?

Nein. Aber in meinen Augen gibt es hier einen interessanten Unterschied. Im Fall von Nutztieren erwarten wir, dass es den Mastschweinen oder Milchkühen als Masse gut geht. Entsprechend möchten wir eine Versicherung, dass ein bestimmter Betrieb oder das ganze System der Nutztierhaltung tierschutzkonform funktioniert. Bei Haustieren ist das anders. Hier haben die Leute Erwartungen an einzelne Individuen, zum Beispiel an mich und Titus. Und sie möchten nicht bloss eine Versicherung, sondern einen Beweis, dass unsere Beziehung intakt ist und es Titus gut bei mir hat.

Irgendwie ist das nicht fair, wenn man bedenkt, wie ähnlich sich diese Tiere sind. Trotzdem werden die einen gestreichelt, die anderen aber geschlachtet.

Tatsächlich gibt es, um bei diesem Beispiel zu bleiben, keinen grossen Unterschied zwischen Schweinen und Hunden. Beide sind intelligent, sozial, verspielt, neugierig, enorm lernfähig und – ganz wichtig – beide haben die Fähigkeit, Schmerzen zu empfinden und Freuden zu erleben.

Also sollten wir Schweine gleich behandeln wie Titus?

Wie alle Wirbeltiere, sind Hunde und Schweine bewusste Lebewesen. Damit meine ich: Es sind nicht einfach Maschinen, die auf Reize reagieren. Vielmehr macht es für sie einen Unterschied, was mit ihnen passiert, weil sie mit Angst, Freude, Schmerz oder Lust reagieren. Deshalb ziehen sie in aller Regel Situationen vor, die ihnen Freuden bereiten, und meiden andere, die für sie Schmerzen bedeuten oder ihr Leben in Gefahr bringen. Sie haben also wenigstens zwei fundamentale Interessen: das Interesse, nicht leiden zu müssen, und das Interesse, am Leben zu bleiben. Um auf Ihre Frage zu kommen: Ja, aus ethischer Sicht müssen wir diese fundamentalen Interessen respektieren, egal, ob es sich dabei um Titus handelt oder um ein Schwein aus der Mast.

Man könnte aber auch sagen: Je stärker die Beziehung zu einem Tier, desto grösser die Verantwortung, die wir ihm gegenüber haben. Und weil uns unser Hund nähersteht, müssen wir ihn auch gar nicht so behandeln wie irgendein Mastschwein.

In gewisser Hinsicht trifft das zu: die Nähe zu einem Lebewesen bringt besondere Verpflichtungen mit sich. Meine Frau und ich haben uns dafür entschieden, mit Titus ein Leben zu teilen. Damit haben wir bestimmte Verantwortungen übernommen, die wir gegenüber einem anderen Hund nicht haben. Zum Beispiel hat Titus ein Anrecht darauf, dass er von uns gut versorgt wird oder dass wir mit ihm spielen. Aber das heisst ja noch lange nicht, dass wir andere Hunde quälen oder gar töten dürfen. Sie haben ein Interesse, nicht leiden zu müssen und am Leben zu bleiben. Und darin unterscheiden sie sich nicht von Titus. Diese grundlegenden Rechte haben wir zu respektieren, egal wie nahe uns ein Lebewesen steht. Das gilt auch für Schweine oder Hühner.

Reden Sie jetzt bewusst von Rechten, die Tiere haben sollten? Reicht ein strenges Tierschutzgesetz, wie es die Schweiz angeblich hat, denn nicht aus?

Auch das beste Tierschutzgesetz kann nicht verhindern, dass immer mehr Tiere von uns genutzt werden – und dementsprechend leiden müssen. Grössere Ställe, kürzere Transportzeiten oder Kastrationen unter Betäubung reichen offenbar nicht aus für das Wohl der Tiere. Es braucht ein stärkeres Mittel, um Individuen zu schützen. Und das sind Rechte, konkret: das Recht auf Unversehrtheit und das Recht auf Leben. Sie funktionieren wie Stoppschilder: «Halt, bis hierher und nicht weiter!» Und sie können grobe Ungerechtigkeiten verhindern.

Wie meinen Sie das?

Bleiben wir bei Titus und dem Schwein. Obwohl beide dieselben basalen Interessen haben, werden sie, wie gesagt, sehr unterschiedlich behandelt. Das ist ungerecht. Hätten Tiere Grundrechte, dann dürfte diese Ungleichbehandlung nicht sein.

Gut, nehmen wir an, Tiere haben solche Rechte. Gelten diese Stoppschilder absolut, also dürfen wir sie unter keinen Umständen übertreten?

Doch, es gibt Ausnahmen. Die Notwehr ist so ein Beispiel: Werde ich von einem Tier bedroht und kann ich mich nur retten, indem ich es verletze oder töte, habe ich zwar dessen Rechte missachtet, doch das war, in meinen Augen, gerechtfertigt. Oder nehmen wir an, Titus hat sich verletzt und ich muss ihm Schmerzen zufügen, damit er überleben kann. Auch dann hätte ich sein Recht auf Unversehrtheit missachtet, doch auch das scheint mir zulässig, da es ja in Titus’ Interesse ist.

Mit anderen Worten: Wir dürfen diese Rechte nur dann verletzen, wenn wir nicht anders können, es also keine Alternativen gibt?

Genau. Nehmen wir die Ernährung: Wenn wir uns problemlos ohne Fleisch gesund ernähren können, sollten wir aufhören, Tiere dafür zu züchten, zu mästen und zu töten.

Aber dann würde es diese Tiere ja gar nicht mehr geben. Sie würden ihnen damit sozusagen ihr Lebensrecht absprechen.

Das ist tatsächlich ein heikler Punkt. Nur muss man auch sehen: Viele dieser Tiere haben massive gesundheitliche Probleme, weil sie so überzüchtet sind. Wir bringen sie in die Welt und die Chance ist gross, dass sie kein gutes Leben haben werden. Wenn also jemand sagt «Es ist doch schade, dass sie nicht leben dürfen», würde ich erwidern: Wenn sie leben, ist das nicht gut für sie. Deshalb ist es auch nicht schade, wenn sie nicht leben dürfen, es ist sogar gut, dass sie nicht leben müssen. Übrigens lässt sich dieser Gedanke nicht auf Menschen übertragen. Wir züchten ja Menschen nicht, wir nutzen sie nicht zu Nahrungszwecken, und sie können selbst bestimmen, ob sie Familie wollen oder nicht. All das ist bei Zuchttieren gerade nicht der Fall.

Das Problem mit der Zucht gibt es auch in der Hundehaltung.

Ja. Wir züchten Hunde, deren Leid schon vorprogrammiert ist: Blindheit, Taubheit, verkümmerte Atemwege, Probleme mit der Fortpflanzung, die Liste ist lang. All das verletzt das Recht dieser Tiere auf Unversehrtheit. Da muss man sich doch die Frage stellen: Dürfen wir diese Art von Hunden überhaupt noch züchten? Ich rede jetzt vor allem von diesen Qual- und Hochleistungszuchten. Daneben gibt es ja noch andere «Rassen» von Katzen und Hunden – aber auch von Nutztieren –, mit denen der Mensch interagieren könnte.

Und wie würde das aussehen?

Ich könnte mir gut Lebenshöfe vorstellen, wie es sie ja heute bereits gibt. Das sind Orte, an denen diese Tiere einfach wohnen würden, autonome Inseln sozusagen. Wir könnten sie dort besuchen oder mit ihnen zusammenleben.  Das klingt sicher alles etwas utopisch. Aber wir brauchen utopische Fantasie und Energie, wenn wir etwas verändern wollen, egal in welchem Bereich. Und unsere Beziehung zu den Tieren hat dringend eine Veränderung nötig.

 


HUMAN-ANIMAL STUDIES (HAS)

Die Auseinandersetzung mit unseren Beziehungen zu anderen Tieren ist so alt wie die Menschheitsgeschichte. Aber erst in den vergangenen Jahrzehnten hat sich daraus ein eigenes Forschungsfeld namens Human-Animal Studies (HAS) entwickelt, an dem sich von der Philosophie über die Soziologie bis hin zu den Kunstwissenschaften fast alle Wissenschaftszweige beteiligen.

Während sich die Beschäftigung mit den Mensch-Tier-Beziehungen im angelsächsischen Raum bereits etablieren konnte, beginnt sie im deutschsprachigen Raum gerade erst Fuss zu fassen. Wir vom Büro für Mensch-Tier-Beziehungen möchten mit Buchpublikationen, wissenschaftlichen und publizistischen Texten sowie Vorträgen dazu beitragen, dass sich dieses spannende Forschungsprogramm der Human-Animal Studies auch hierzulande verbreiten kann.